Der Name unserer Selbsthilfegruppe Dornröschen entstand, nachdem ich die nachfolgende Interpretation gelesen hatte.
Quelle: www.maerchenapfel.de
Mein Dank gilt der Urheberin Elfie Horak, die mir die Nutzungsrechte zur Veröffentlichung erteilt und Ihren Text zur Verfügung gestellt hat.
Dornröschen in der Interpretation
Autor: Elfie Horak
Zu Beginn des Märchens erfahren wir von einem Königspaar, das sich sehnlichst ein Kind wünscht, doch keines bekommt. Dieser erste Satz deutet bereits auf die grundlegende Thematik, des Märchens. Mit den beiden großen archetypischen Kräften des Lebens, der männlichen und der weiblichen Kraft, repräsentiert durch König und Königin, ist etwas nicht in der Ordnung, und so kann eine gegenseitige Befruchtung nicht stattfinden.
„Da trug sich zu, als die Königin einmal im Bade saß, dass ein Frosch aus dem Wasser ans Land kroch und zu ihr sprach‚ dein Wunsch wird erfüllt werden, ehe ein Jahr vergeht, wirst du eine Tochter zur Welt bringen.“
In jedem Anfang ist in verdichteter Form bereits der gesamte Ablauf enthalten – eine Weisheit, die auch in Dornröschen zum Ausdruck kommt, und zwar in diesem zweiten Satz. Ein Frosch kriecht vom Wasser an Land. Das steht für einen Prozess der Bewusstwerdung. Etwas, das vorher im Wasser, dem Symbol für das Unbewusste, verborgen lag, tritt ans Licht, es wird bewusst.
Als der Frosch der Königin die Botschaft bringt, dass sie ein Kind bekommen wird, sitzt sie im Bade. Was heißt das? Alles Wässrige ist ein Hinweis auf die weibliche Seite des Lebens, auf das empfangende Prinzip. Übersetzt könnte dieser Satz also heißen: Als die Königin einmal in einer besonders weiblichen Verfassung war, wurde sie schwanger.
Dass es ein Frosch ist, der aus dem Wasser kriecht, verheißt allerdings nichts Gutes. Das, was vom unbewusst Weiblichen in die Sichtbarkeit tritt, wird uns in einer verkappten, noch nicht erlösten Form begegnen.
Wir ahnen schon, weshalb das Königspaar bislang vergeblich auf ein Kind gehofft hat: Die Königin konnte eine empfangende, also weibliche Haltung noch nicht aufbringen, und die ist Voraussetzung für Empfängnis und Schwangerschaft. Wir fragen uns, warum? Auch darauf gibt das Märchen eine Antwort. Sei kein Frosch! meint auch: Hab keine Angst. Vermutlich hat Angst eine entscheidende Rolle gespielt.
Dieses Märchen berichtet uns also von einem natürlichen Entwicklungsprozess zu mehr Bewusstheit, wie er bei jedem Menschen abläuft. Dabei wird allerdings der männlichen Seite des Lebens ein zu großes Gewicht beigemessen und die weibliche Seite wird vernachlässigt. Das hat freilich Konsequenzen, und von denen erzählt uns das Märchen.
„Was der Frosch gesagt hatte, das geschah, und die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, dass der König vor Freude sich nicht zu lassen wußte und ein großes Fest anstellte.“
Wir erfahren von der Schönheit des Kindes und der übergrossen Freude des Königs darüber. Von der Freude der Mutter hören wir nichts. Das will uns etwas Wichtiges mitteilen. Schönheit ist ein Ausdruck von Weiblichkeit und Harmonie und damit genau das, was der König bisher vermisst hat. Das Kind ermöglicht ihm die emotionale Berührung mit dem weiblichen Pol, seiner Ergänzung, was seine Frau ihm offensichtlich nicht geben konnte, weswegen sie auch lange Zeit nicht schwanger wurde.
Seiner Freude will er nun mit einem großen Fest Ausdruck verleihen, und auch die dreizehn weisen Frauen des Landes sollen dazu eingeladen werden.
„… weil er aber nur zwölf goldene Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so musste eine von ihnen daheim bleiben.“
Was heisst denn das? Ein goldener Teller erinnert uns an die Sonne. Und bei der Zwölf denken wir an die zwölf Sonnenmonate. Die Sonne symbolisiert ein archetypisch männliches Prinzip, ebenso das Gold, und dass es am Hofe nur zwölf goldene Teller gibt, heißt, dass in diesem Königreich allein das männliche Prinzip gelebt und geachtet wird.
Die Zahl Dreizehn hingegen gilt als archetypisch weiblich, denn sie bezieht sich auf die dreizehn Mondzyklen des Jahres. Ein dreizehnter Teller wurde nie gebraucht. Das heißt, alles Weibliche wurde als überflüssig, nicht notwendig angesehen. Es spielte einfach keine Rolle. Und so wurden nur zwölf weise Frauen eingeladen. Für die dreizehnte als Repräsentantin des Weiblichen schlechthin war auf diesem Fest kein Platz. Der weibliche Aspekt wird einmal mehr aus dem Leben verdrängt und ausgeschlossen.
Im Leben des Königspaars sind die beiden großen Kräfte des Lebens dramatisch aus dem Gleichgewicht geraten. Unter dieser Voraussetzung kann kein neues Leben entstehen, denn dazu braucht es die Verschmelzung zweier entgegengesetzter,
aber gleich starker Teile.
Sehen wir uns die heutige Gesellschaft an, so wird klar, dass Dornröschen hoch aktuell ist. Auch bei uns zählt vor allem die männliche Seite des Lebens.
Aktiv sein, Quantität produzieren und verteilen, sich die Ressourcen der Erde verfügbar machen, draußen Flagge zeigen – all das steht bei uns hoch im Kurs. Hingegen etwas in Empfang nehmen, Leben wachsen und gedeihen lassen, für Qualität von Leben und Lebensmitteln sorgen, auf Lebenskultur achten, Fürsorge für Kinder und Schwache übernehmen, drinnen ein erholsames Zuhause aufbauen, das ist die weibliche Seite. Die wichtigste weibliche Aufgabe ist es, die äußeren Lebensumstände mit den inneren Bedürfnissen des Menschen in Einklang zu bringen. Nur so kann Leben wachsen und gedeihen und Lebensqualität zunehmen.
Solche Aufgaben werden heute allgemein gering geachtet. Passiv-empfänglich sein wird häufig gleichgesetzt mit faul oder langweilig sein. Die Fürsorge für die eigenen Kinder und Eltern wird an Fremde delegiert. Lebensqualität und Kultur möchte zwar jeder gern haben, doch meist selbst nichts dafür tun, weil es wirtschaftlich nichts oder nur wenig einbringt.
Darum drängen wir Frauen heute auch auf die männliche Seite. Und machen damit das Gleiche wie der König im Märchen: Wir laden die dreizehnte weise Frau nicht ein. Wir laden die Weiblichkeit nicht in unser Leben ein, wir räumen ihr keinen Platz
ein, und wir nähren sie nicht. Wir lassen sie nicht am Fest unseres Lebens teilhaben, sondern schließen sie aus.
Sehen wir uns an, was uns das Märchen vom Fortgang der Geschichte berichtet.
Eine Katastrophe bahnt sich an. Die weisen Frauen bedenken eine nach der anderen das Königskind mit guten Wünschen, da erscheint plötzlich die nicht geladene dreizehnte weise Frau, um sich zu rächen, und ruft mit lauter Stimme: „…die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot hinfallen.“ Weiter heißt es: „Alle waren erschrocken, da trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufheben, sondern nur ihn mildern konnte, so sagte sie ‚es soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähriger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.“
Darauf reagiert der König pragmatisch und lässt alle Spindeln im Königreich verbrennen, nach dem Motto, wenn es keine Spindel mehr gibt, dann kann mein Kind dadurch auch nicht mehr getötet werden. Doch er erkennt nicht seinen grundsätzlichen Fehler, und darum wird ihm diese Maßnahme nicht viel nützen.
Seine Vorgehensweise bringt genauso wenig, wie wenn man im Auto das leuchtende Warnlämpchen herausschraubt, das darauf hinweist, dass Öl nachgefüllt werden muss.
Sein eigentlicher Fehler war, die dreizehnte Frau nicht eingeladen zu haben, mit anderen Worten der Ausschluss des weiblichen Lebensprinzips. Und das wird sich rächen, nämlich so, wie es die weise Frau vorausgesagt hat: Die Königstochter, und das heißt das Weibliche, wird sterben.
Doch es ist kein wirklicher Tod. Alles, was verdrängt wird, behält seine Kraft, auch wenn es nicht mehr sichtbar ist.
Das Märchen sagt uns Folgendes: Wer eine gewisse Zeit – fünfzehn Jahre sind es in der Geschichte – einseitig nur die männliche Seite lebt, kommt irgendwann an den Punkt, an dem es so nicht mehr weitergeht. Er wird verletzt. Und nun braucht es einen weiteren Zeitraum – hundert Jahre sind es im Märchen, bis die Chance besteht, die Einseitigkeit wieder auszugleichen und damit die Verletzung zu heilen.
Was bedeuten die Zahlen? Fünfzehn setzt sich zusammen aus der Fünf und der Zehn, einer Halbheit und der Vollkommenheit. Ist die männliche halbe Phase um, so muss nun die andere Phase folgen, damit die Einheit wieder hergestellt werden kann. Mit der Fünfzehn beginnt erneut die Entwicklung, die aus einer Halbheit wieder eine Ganzheit macht. Damit drückt diese Zahl ein weibliches Prinzip aus, das ja gerade diese Aufgabe hat: Unzulänglichkeiten, Halbheiten zu erkennen, sie auszuräumen und wieder die Vollkommenheit, die göttliche Ordnung herzustellen.
Und die hundert Jahre? Die Hundert ist wie die Zehn ein Symbol der Einheit, und zwar in ihrer höchsten Vollendung. Während des Schlafes wird eine unbewusste weibliche Phase ablaufen. Sie wird so viel Weiblichkeit ins Leben bringen, wie bisher Männlichkeit vorhanden war. Dann stehen sich zwei gleich große Teile gegenüber, die männliche und die weibliche Seite.
Wir erfahren durch das Märchen nicht nur, dass ein Mensch, wenn er sich zu lange einseitig männlich verhält, verletzt wird, sondern wir erfahren auch, woran er sich verletzt. Das zeigt uns die Spindel. Und die steht für unser innerstes Wesen, für den göttlichen Kern in uns, den Funken, der uns erst leben lässt. Lebt ein Mensch zu lange einseitig in einer männlichen Lebensausrichtung, dann gerät er irgendwann dramatisch aus dem Gleichgewicht. Sein innerstes Wesen hält diesen Zustand nicht länger aus.
Eine einseitige männliche Ausrichtung heißt, er ist nach außen orientiert. Er interessiert sich für alles, was draußen in der Welt geschieht, sei es Wirtschaft, Politik usw. Für den Urlaub plant er Fernreisen und abends liest er, was in der Welt passiert ist, oder er schaut fern. Er ist gedanklich mit allem befasst, nur nicht mit sich selbst. Doch diese Ausrichtung kann wie das Einatmen nicht unaufhörlich stattfinden, denn damit entfernen wir uns von uns selbst. Die Brücke, die zu unserem Kern aufrechterhalten werden muss, wird zu lang, und irgendwann schreit unser Innerstes auf, denn wir drohen die Verbindung zu dem, woraus sich unser Leben speist, zu verlieren. Das ist der Punkt an dem sich, wie die dreizehnte Frau es vorausgesagt hat, die Königstochter an der Spindel sticht. Der äußerste Punkt, der zur Umkehr zwingt, ist erreicht.
Wenn Männer an diesem Punkt angelangt sind, sehnen sie sich nach einer Frau und fühlen sich insbesondere zu einer weiblichen Frau hingezogen. Wenn eine Frau, die primär in einer männlichen Lebensausrichtung lebt, an diesen Punkt kommt, dann fühlt sie sich leer, ausgebrannt und zerrissen. Was sie braucht, ist, sich wieder mit ihrem innersten Wesen, ihrem göttlichen Kern in Einklang zu bringen.
Doch in Kontakt mit diesem Kern zu kommen, ist gar nicht so leicht möglich: Im Märchen lässt der König alle Spindeln kurzerhand verbrennen. Übersetzt heißt das: Das innerste Wesen ist wie verbrannt. Aus Sicht des Königs ist das durchaus zu verstehen, denn bei einer männlichen Lebensausrichtung ist die Spindel auch nicht nötig.
An dem Tag, als die Königstochter gerade fünfzehn Jahre alt ist – der Zauberspruch der weisen Frau ist längst vergessen –, entdeckt sie oben im Turm eine kleine Stube, darin sitzt eine alte Frau und spinnt ihren Flachs. Das Mädchen tritt ein, begrüsst das alte Mütterchen und interessiert sich sogleich für die Spindel: „Was ist das für ein Ding, das so lustig herumspringt?“
Trotz aller Vorkehrungen des Vaters ist doch eine Spindel übrig geblieben, und die hat die Königstochter nun entdeckt. Sie musste sie entdecken, um zur Frau heranzureifen, darum hat sie, wenngleich unbewusst, danach gesucht. Sie hat Stuben und Kammern besehen, wie sie Lust hatte, so sagt das Märchen. Unser innerstes Wesen lässt sich nicht vollständig ausmerzen, ein Funke bleibt, und der rückt jetzt, da es an der Zeit ist, ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
Dem Mädchen fällt auf, dass da etwas ist, was so lustig herumspringt, und sie hat damit das, wofür die Spindel steht, treffend beschrieben: Unser Wesen ist reine Lebensenergie, sie entfaltet Lust, Freude und Lebendigkeit.
Idealerweise sollte eine Frau die Möglichkeit haben, mit diesem erstmaligen Aufmerksamwerden auf sich selbst, auf ihr innerstes Wesen, in eine weibliche Phase einzutreten. Dazu muss sie aber ihre aktuellen Lebensbedingungen immer wieder mit sich selbst abgleichen. Sind diese so, dass sie die innere Lebendigkeit nicht nur nicht stören, sondern sie fördern? Kann eine Frau ihre tiefste Energie verströmen? Lebt sie im Kontakt mit sich selbst? Eine Arbeit, die dieses höhere Ziel verfolgt, ist weibliche Arbeit. Doch die Königstochter wuchs in einer Gesellschaft auf, in der diese Arbeit nicht nur nichts galt, sondern gar nicht bedacht wurde. Die Konsequenz für uns ist: Wir erkranken an unserem Wesen. Ein Nichtbeachten der weiblichen Seite verletzt uns und macht uns krank.
So geht der Zauberspruch in Erfüllung. Die Königstochter sticht sich an der Spindel und fällt in einen tiefen Schlaf. Und mit ihr der ganze Hofstaat.
Was hat dieser tiefe Schlaf zu bedeuten?
Wenn wir aus welchen Gründen auch immer unsere weibliche Seite nicht leben – das gilt für Männer und Frauen gleichermaßen –, so schlafen wir. Denn es ist wie gesagt der weibliche Anteil, der uns nach innen schauen lässt. Damit werden wir auf uns selbst und auf unsere Bedürfnisse aufmerksam und können prüfen, ob unsere Lebensbedingungen dem entsprechen. Wir werden uns unserer selbst bewusst. Findet dieser Prozess nicht statt, dann schlafen wir.
Folgerichtig versinkt nun der ganze Hofstaat in diesen Schlaf: Der König und die Königin, die Täubchen, sogar die Fliegen an der Wand schlafen. Im Märchen heißt es: „… ja, das Feuer, das auf dem Herde flackerte, ward still und schlief ein, und der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der den Küchenjungen, weil er etwas versehen hatte, an den Haaren ziehen wollte, ließ ihn los und schlief. Und der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.“
Das sagt uns: Alle vier Elemente – Feuer, Erde, Wasser und Luft – werden still und schlafen ein. Das Feuer des Lebens, der Antrieb, Geschäfte zu machen, seinen Braten in die Röhre zu schieben, wie man sagt, versiegt. Wir haben keinen Wind mehr unter den Flügeln, sondern unser Leben wird langweilig und still. Das ist leicht verständlich, denn wo Weiblichkeit nicht leben kann, kann auch Männlichkeit nicht existieren, analog zum elektrischen Strom: Nimmt man den Pluspol weg, so gibt es auch keinen Minuspol. Strom kann nicht mehr fließen. Die Energie, die Leben pulsieren lässt, versiegt.
Im Märchen hören wir nun: „Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward …“
Wenn die Weiblichkeit schläft, gibt es niemanden mehr, der dafür sorgt, dass die Welt mit den Bedürfnissen der Menschen übereinstimmt. Denn das ist ja gerade ihre wichtigste Aufgabe: dafür zu sorgen, dass mangelhafte Zustände erkannt und überwunden werden, um einen Einklang wiederherzustellen. Aus der so entstandenen Verbindung mit dem innersten göttlichen Kern kann man sich um eine äußere Ordnung bemühen, die der inneren Vollkommenheit entspricht. Der Kelch muss immer wieder gefüllt werden. Wird diese Aufgabe nicht mehr erledigt, so kommt immer mehr Mangel auf, und Menschen geraten in Not. Das Leben wird dornig. Die Welt wird zu einem unwirtlichen, lebensfeindlichen Ort.
Die Dornenhecke ist ein unbewusster Aspekt der Weiblichkeit, den C. G. Jung Schatten nennt. Alles, was unterdrückt oder negiert wird, verschwindet nicht, sondern bildet einen Schatten. Das heißt, das, was ich nicht in mein Leben lasse, aber von Natur aus brauche, wird sich unbemerkt in mein Leben schleichen – jedoch in verzerrter, negativer Form.
Sperren wir die weibliche Seite aus unserem Leben aus, so wird ein unbewusster Aspekt der Weiblichkeit wachsen, und das ist das, was im Märchen mit der Dornenhecke gemeint ist.
Zum Verständnis ein Beispiel: In den letzten Jahrzehnten waren vielen Menschen Freiheit und Unabhängigkeit wichtig. Im Rahmen dieser Tendenz wurden Familien brüchig, die Emanzipation wurde zu einer breiten Bewegung. Diese einseitige Ausrichtung lässt zunächst unmerklich, dann immer deutlicher einen Schatten wachsen, eine Dornenhecke. Allmählich wird uns schmerzhaft bewusst, dass wir in vielen Lebensbereichen doch abhängig sind, schließlich ist es nicht möglich, solche Themen vollständig aus dem Leben zu verbannen. Wenn wir uns mit großer Vehemenz dafür einsetzen, unabhängig zu sein, dann werden sich Situationen in unserem Leben einstellen, in denen wir mit der gleichen Vehemenz unsere Abhängigkeit spüren. Sei es dass Computer ausgerechnet dann versagen, wenn wir einen wichtigen Termin einhalten müssen, oder dass unser Flug gestrichen wird, auch wenn wir es uns eigentlich nicht leisten können zu fehlen, oder dass der Strom ausfällt oder das Öl teurer wird usw.
Jetzt können wir verstehen, was mit der wachsenden Dornenhecke gemeint ist, die am Ende alles überwuchert: Wir bekommen es mit immer mehr Widrigkeiten und Schwierigkeiten zu tun, die allmählich das Gute, das wir in unserem Leben erreicht haben, immer mehr überwuchern.
Unsere männliche Lebensausrichtung hat viel Neues hervorgebracht, neue Unternehmen, neue Produkte, neue Berufszweige, eine sich rasant entwickelnde Welt, wir sagen: einen Wirtschaftsboom. Der, wenn er zu lange anhält, allerdings nicht mehr als positiv zu bewerten ist. Wenn alles boomt, wird die Welt immer undurchdringlicher und kann immer schlechter durchschaut werden.
Menschen verstricken sich im Dickicht unüberschaubarer Informationen. Sie können darin hängen bleiben und zugrunde gehen, eben wie in einer Dornenhecke.
Wird Kultur nicht mehr gepflegt, so wird sie gröber und einfacher. Durch mangelnde Fürsorge werden Menschen roher, gewalttätiger. Es wächst die Unsicherheit, und die Lebensqualität nimmt ab. Die Welt wird ein unbequemer, unsicherer Ort.
Auch Partnerschaften leiden. Im Märchen können die Jünglinge nicht zu der Königstochter, die fortan Dornröschen heißt, vordringen, „… denn die Dornen, als hätten sie Hände, hielten fest zusammen, und die Jünglinge blieben darin hängen, konnten sich nicht wieder losmachen und starben eines jämmerlichen Todes.“
Übersetzen wir dieses Bild, so sind Männer zwar auf der Suche nach einer Frau, sie können sich auch verlieben, aber zueinander finden können die beiden nicht. In der Realität fühlt sich ein Mann bei einer Frau, deren Weiblichkeit schläft, wie von einer Dornenhecke festgehalten und gefesselt. Seine Urangst, von der Frau verschlungen zu werden, wird übermächtig. Die Frau hingegen vermisst Nähe.
Es besteht folgende Entsprechung: So wenig eine Frau zu sich selbst, zu ihrem innersten Kern vordringen kann, so wenig kann ein Mann zu ihr vordringen.
Beides bedingt sich.
Um eine glückliche Partnerschaft führen zu können, braucht eine Frau Zeit und Ruhe, so dass sie immer wieder ihre Mitte finden und einen Einklang mit sich und der Welt herstellen kann. Es ist die Voraussetzung für Nähe und Verbundenheit.
Das Märchen berichtet uns, dass die Dornenhecke wuchs, „… endlich das ganze Schloss umzog und darüber hinauswuchs, dass gar nichts mehr davon zu sehen war, selbst nicht die Fahne auf dem Dach“.
Dieses Bild sagt überdeutlich, was geschieht, wenn wir einseitig nur die männliche Fahne hochhalten. Wir beschwören damit dickste Schwierigkeiten herauf, vor denen wir früher oder später kapitulieren müssen. Eine einseitig männliche Lebensausrichtung lässt sich von niemandem auf Dauer aufrechterhalten.
Mit dem Überwuchern der Fahne auf dem Dach ist die maximale Spannung zwischen Männlich und Weiblich erreicht. Das Leben ist eine Zerreißprobe.
Insbesondere Frauen spüren diese Spannung. Denn einerseits haben sie häufig keine andere Wahl und müssen genauso ihre Karriere verfolgen und nach draußen gehen wie ihre männlichen Kollegen auch. Doch andererseits fühlen sie tief in ihrem Inneren das schlafende Dornröschen. Sie spüren immer dringender die Notwendigkeit, sich nach innen zu wenden und aufmerksam auf sich selbst zu werden. Bei manchen Frauen, die mit viel Engagement berufliche Ziele verfolgen, meldet sich plötzlich der sehnliche Wunsch, sich fallen zu lassen.
Dies bedeutet nicht mehr und nicht weniger als zu sich selbst zu kommen und wieder mit sich eins zu werden und somit die innere Zerrissenheit wieder zu heilen. Um wieder in einen weiblichen Rhythmus zu kommen, muss eine Frau diesen Schritt wagen.
Diese Dynamik verrät uns bereits der Name Dornröschen. Die Dornen bezeichnen, wie wir nun wissen, alles Mangelhafte, nicht Vollkommene des Lebens.
Die Rose hingegen ist ein Symbol für die Liebe und steht für Einheit und Vollkommenheit.
Damit verrät uns der Name Dornröschen dasselbe über das Wesen der Weiblichkeit, wie wir es bereits in den Jahreszahlen Fünf und Zehn kennengelernt haben. Er bezeichnet die Kraft, Unvollkommenheiten, Halbheiten des Lebens zu überwinden, indem zwei Hälften zusammengefügt werden. Womit dann die Hundert, die Einheit oder, wie der Name es sagt, die Rose entsteht. Die Kraft, die notwendig ist, um Gegensätzliches zusammenzubringen, heißt Liebe und das ist die besondere Aufgabe der Frau.
Es ist nicht zufällig, dass der Name Dornröschen im Märchen das erste Mal in der größten Verwüstung genannt wird, wenn die Dornen, also die Schwierigkeiten, das ursprünglich strahlende Schloss völlig unter sich begraben haben: Das Wort Dornröschen steht für einen Anfang, der genau zu dieser Zeit beginnt. Wir ahnen, welcher Anfang gemeint ist, wenn wir das Gesamtbild auf uns wirken lassen. Dann sehen wir eine Dornenhecke als äußere Schale, darin befindet sich wie ein Kern das Schloss und hierin wiederum verborgen wie ein Keim das schlafende Dornröschen. Das Weibliche birgt in sich das Männliche, und darin gibt es den weiblichen Keim. Nun wartet dieser Keim auf einen männlichen Impuls, auf die Befruchtung, mit der ein neuer Lebenszyklus beginnen kann.
„Nun waren aber gerade die hundert Jahre verflossen, und der Tag war gekommen, wo Dornröschen wieder erwachen sollte.“
An diesem Punkt der dichtesten Dornenhecke bzw. der maximalen Unvollkommenheit, geschieht ein Wunder: „Als der Königssohn sich der Dornenhecke näherte, waren es lauter große schöne Blumen, die taten sich von selbst auseinander und ließen ihn unbeschädigt hindurch …“
Jetzt ist alles anders. Waren vorher die Dornen undurchdringlich, so ist das kennzeichnende Merkmal dieses Bildes die Öffnung, auch ausgedrückt durch die Blumen.
Dass die Dornenhecke die gleiche Höhe erreicht hat wie die Spitze des Schlosses, bedeutet: Sind die Schwierigkeiten und Widrigkeiten des Lebens so hoch angewachsen wie die Ziele, die mit der männlichen Lebensausrichtung angestrebt wurden, wandeln sich die Dornen in Blumen. Wir öffnen uns, und der Prinz kann zu uns vordringen. Der Prinz steht für das männlich-geistige Prinzip. Mit anderen Worten, ist das Maß unserer Schwierigkeiten voll, so geschieht an diesem Punkt eine Wandlung durch einen geistig energetischen Impuls. Dieser bewirkt gleichzeitig den Schritt zu mehr Bewusstheit. Wir werden wach.
Dornröschen schlägt die Augen auf.
Der Prinz gibt Dornröschen einen Kuss. Er steht als Symbol für die Vereinigung von Gegensätzen und damit für die Liebe. Männliches und Weibliches sind eins geworden. Ziele, die wir angestrebt haben, und die Widrigkeiten, denen wir standhalten mussten, haben sich relativiert und schließlich aufgelöst.
Und die Moral von der Geschicht? Die männliche und die weibliche Seite des Lebens müssen mit gleicher Kraft gelebt werden. Wird die weibliche Seite vernachlässigt, so wächst die dornige Seite des Lebens. Wer sich hingegen immer wieder darum bemüht, Einheit mit sich selbst und Liebe in seinem Leben herzustellen, dessen Leben wird ohne dornige Wegstrecke auskommen. Oder kurz: Vergesst den dreizehnten goldenen Teller nicht!