Ich war beeindruckt

“Nachdem wir 2013 geheiratet haben, wollten wir erstmal noch keine Kinder haben. Wir waren Mitte 20. Wollten uns erstmal beruflich orientieren und für ein bis zwei Jahre arbeiten, bevor wir mit unserer Familiengründung beginnen. Im August 2015 entschieden wir uns, die Verhütung wegzulassen mit der Hoffnung, also in den nächsten Monaten schwanger zu werden. Wir beide sind kerngesund, sportlich, aktiv, berufstätig und haben familiär keinerlei Vorbelastungen. Auch rauchen wir beide nicht, trinken keinen Alkohol und pflegen einen sehr gesunden Lebensstil.

Nie hätten wir gedacht, dass es mit dem Kinderkriegen schwierig werden könnte. Monat für Monat stellte sich keine Schwangerschaft ein, was uns stutzig machte.

Nach ca. einem Jahr stellten wir uns im Kinderwunschzentrum an der Uniklinik vor. Dort hat man die nötigen Untersuchungen gemacht, die Diagnose: idiopathische Sterilität. Es folgten in den Jahren 2016-2017 mehrere Zyklen mit Verkehren zum optimalen Zeitpunkt, dann auch mehrere Inseminationen. Das ganze Jahr verbrachten wir damit, jeden Zyklus optimal zu nutzen, assistiert schwanger zu werden. Alle Versuche waren erfolglos. Uns wurde die IVF bzw. ICSI angeboten. Davon machten wird Gebrauch. Im Jahr 2018 starteten wir die erste künstliche Befruchtung. Es wurden 13 Eizellen gewonnen, von denen 9 befruchtet werden konnten. Alle 9 Embryonen wurden nach und nach in einem Frischtransfer und in mehreren Kryotransferen übertragen. Kein Embryo hat sich eingenistet. Mittlerweile ist ein Jahr vergangen. Ein Jahr mit unglaublich vielen Spritzen, Terminen, Ausreden, Niederschlägen, Verzweiflung, Traurigkeit, Hoffnungen und vielem mehr. Alle eingefrorenen Embryonen waren aufgebraucht. Die nächste ICSI sollte her. Ich brauchte eine Pause. Ein Ratschlag, den man leider in dieser Phase zu oft hört: du versteifst dich zu sehr, du musst es entspannt angehen, du musst aufhören, daran zu denken, du wünschst es dir zu sehr, lenke dich ab. Ich konnte es irgendwann nicht mehr hören. Trotzdem entschied ich mich, dem Rat zu folgen, auch weil ich die Pause gebraucht hatte. 2019 habe ich keine Behandlung mehr gemacht. Ein ganzes Jahr habe ich mich nicht mehr damit beschäftigt, habe Urlaub gemacht, mich beruflich umorientiert, habe den Druck herausgenommen. Natürlich haben wir nicht verhütet und weiterhin natürlich versucht. Nichts ist passiert.

2020 hatte ich wieder genug Energie gesammelt, einen nächsten Versuch zu starten. Ich suchte eine neue Praxis. Dort hat es vier Anläufe der Stimulation gedauert, bis Eizellen gewonnen werden konnten. Dies hat wieder 9 Monate gedauert. Nach der Eizellentnahme konnten wir 5 Embryonen gewinnen. Diese wurden nacheinander je Zyklus 1-2 Embryonen transferiert. Die Qualität sah laut Ärztin super aus, die Prognose sehr gut, die Hoffnung riesengroß. Bei zwei Zyklen konnte ich 4 Tage lang positiv testen, wonach die heftige Blutung folgte und sich die Embryonen wieder nicht eingenistet haben. Die Verzweiflung wächst, die Traurigkeit breitet sich aus, übernimmt die Oberhand.

Im Leben funktioniert man, innerlich fühlt man sich leer. Die Unterstützung von außen ist auch nicht, wie man sie braucht: Ratschläge, die einen verletzen, Wünsche, die einem unter die Nase reiben, was man nicht hat und nicht bekommt, Beruhigungen, die einen mehr aufregen als beruhigen. Also behält man die Trauer und den Schmerz lieber für sich und versucht, damit klarzukommen. Nun sind seit 2016 bis Ende 2020 bereits knapp fünf Jahre vergangen. Zu viele Jahre des Wartens, Bangens, der Hoffnung und der Niederlage und des Einschließens des eigenen Schmerzes. Ich brauchte ein Ventil, mein Mann war mit seinem Latein am Ende, er konnte mir auch nicht mehr helfen, die Familie sowieso nicht. Sie dachten, sie könnte es nachempfinden, aber fühlen kann es nur jemand, der genau diesen Weg gegangen ist. Ich brauchte also Gleichgesinnte.

Zum Glück fand ich die Selbsthilfegruppe Dornröschen. Endlich Frauen, die genau wissen, wie sich jahrelanger unerfüllter Kinderwunsch anfühlt. Im Sommer 2020 traf ich auf dem Sommerfest der Selbsthilfegruppe auf zwei Pflegemamas. Ihre Pflegekinder riefen sie selbstverständlich „Mama“. Als ich dieses Wort aus den Mündern der Kinder gehört habe, bekam ich Gänsehaut. Die Kinder hatten in diesen Frauen, die selbst jahrelangen Kinderwunsch hatten, ihre Mamas gefunden und es war ganz „normal“. Ich konnte nur Staunen beim Hinsehen, wie die Beziehung zwischen den Frauen und den Pflegekindern war: es war eine natürliche Mama-Kind- Beziehung. Ich war beeindruckt.

An diesem Tag pflanzte sich diese Vorstellung, eine Pflegemama zu werden, in meinen Kopf ein. Ich war gerade 30 Jahre alt geworden. In meinem Kopf schwirrte der Plan herum, dass ich einen dritten Versuch der künstlichen Befruchtung starten wollte. Vielleicht würde es beim dritten Mal klappen? So sagen es doch viele. Aller guten Dinge sind drei.

In der Zwischenzeit besuchten mein Mann und ich eine Kinderwunschmesse in Köln. Dort wurden die kreativsten Dinge in Sachen Kinderwunsch vorgestellt: Leihmutterschaft, Eizellspende, Samenspende, Embryonenspende, Kinderkriegen mit Garantie für 75.000 Euro in der Ukraine. Auf die Frage, wie sie denn eine Garantie gewährleisten können, sagten sie, dass man alle Arten der Spenden ausprobiert, bis es funktioniert. Fremde Eizellen, mit fremden Spermien in fremden Gebärmüttern. So bekommt man auf jeden Fall ein Kind, eben für 75.000 Euro. Diese Vorstellung fanden mein Mann und ich irgendwie befremdlich. Wir wollten ein Kind, aber nicht auf diese Weise. Ganz hinten in der Messe waren die Stände für die Adoption und die Pflege. Dort sah ich meinen Mann vorauseilen. Wir hörten uns die Konzepte gespannt an und gingen mit einem guten Gefühl und den Kontaktdaten zu den Organisationen nach Hause. Kurze Zeit später wurden wir von der Vermittlungsstelle für Pflegekinder kontaktiert, nachdem wir unsere Daten dort hinterlassen hatten. Ob wir nicht an den Seminaren interessiert wären. Waren wir, jedoch fühlten wir uns noch nicht bereit dafür.

Etwa ein Jahr später entschieden wir uns, an den Seminaren teilzunehmen, da sie ja auch unverbindlich waren. Sie sollten als Orientierung dienen, ob wir uns das Pflegeverhältnis überhaupt vorstellen können und natürlich auch als Vorbereitung, wenn wir uns dazu entschieden hätten. Kurz vorher besuchten wir eine dritte Kinderwunschpraxis, bei der wir uns für die dritte ICSI in Vorbereitung begeben hatten. Für uns war klar: das wird der letzte Versuch. Wenn es klappt, haben wir ein leibliches Kind. Wenn es nicht klappt, werden wir Pflegeeltern. Der dritte Versuch scheiterte ebenfalls.

Wir gingen in die Vermittlung für ein Pflegekind. Es dauerte ca. 4 Monate, bis wir angerufen wurden. Der Anruf kam eines Abends gegen 19 Uhr im März 2022. Ohne viel Vorspann sagte uns die Mitarbeiterin, dass dort ein 3-jähriger Junge ist, der ein Zuhause bei Dauerpflegeeltern sucht. Mein Herz rutschte mir in die Hose, ich war wie erstarrt. Soll es jetzt so kommen? Wir können ein Kind bekommen? Unser sehnlichster Wunsch seit nun 6,5 Jahren könnte jetzt in Erfüllung gehen? Aber was ist mit meiner Arbeit? Und er ist ja schon 3? Welche Vorgeschichte hat er? Schaffen wir das überhaupt? Wir haben noch gar nichts für Kinder bei uns zu Hause? Ich sagte zu der Mitarbeiterin, dass ich eine Nacht darüber schlafen möchte. Sie sagte, dass es das Richtige ist. Am nächsten Tag telefonierten wir wieder und sie erzählte uns mehr von ihm. Ich war neugierig, es formte sich langsame eine Vorstellung in meinem Kopf. Ich wollte mehr wissen. Sie sagte uns, dass wir ein Treffen haben können und uns danach entscheiden müssen. Es wäre für das Kind unzumutbar, wenn wir ihn öfter träfen und dann absagen würden. Wir waren einverstanden. Es kam zum Treffen. Beim ersten Anblick ist der Funke übergesprungen, mein Mann und ich wussten es genau: JA JA JA.

Daraufhin folgten 20 Treffen bei der Bereitschaftspflegefamilie, in der er bislang gelebt hatte. Im Juni 2022 ist er zu uns nach Hause gezogen, nachdem wir ihm ein Zimmer bei uns eingerichtet hatten. Die Anfangsphase war spannend, trubelig, emotional, unglaublich. Durch die Seminare wurden wir auf viele Situationen gut vorbereitet. Auch bekamen wir eine nette Fachkraft zur Seite gestellt, die uns mit Rat und Tat zur Seite stand. Und so ist das erste Jahr als Pflegefamilie recht schnell vergangen und wir sind zusammengewachsen.

Jetzt höre ich das Wort Mama mehr als 50-mal am Tag, manchmal so, dass es fast zu viel wird. Ich werde gebraucht, herangezogen, gefragt, gekuschelt, zur Hilfe gebeten und auch mal angeschrien. Ich bin glücklich, aus der Spirale des unerfüllten Kinderwunsches herausgekommen zu sein. Ich bin glücklich, dass all das, was ich mir gewünscht habe, einem Kind geben zu können, jetzt gerne von einem Kind angenommen wird. Ich konnte einem Kind, welches bereits auf der Welt war, und unglücklicherweise von den leiblichen Eltern getrennt ist, ein Zuhause geben und mit meinem Mann Eltern für das Kind sein.

Ich fühle mich befreit und angekommen.”

S., 34 Jahre, aus Bonn (im Juli 2023)